Wie das Phänomen »Präsentismus« die arbeitsmedizinische Komfortzone stört
Jeder Mensch hat und kennt Leistungskurven. Ganz natürlich fühlen wir uns an manchen Tagen fitter und leistungsfähiger als an anderen. Unterm Strich geht das in Kombination mit den Anforderungen des Tages meistens gut – man hat ja häufig auch keine Wahl.
Wer jedoch nicht unerhebliche Beschwerden lange ignoriert, der setzt nicht nur seine Gesundheit aufs Spiel, sondern wird zum vielleicht gefährlichsten Kranken eines Betriebs. Ein Kranker ohne Krankenschein ist ein Risikofaktor, der sich in der Vergangenheit nicht einmal hinreichend messen ließ. Ein Phantom, ein Resultat unserer Leistungsgesellschaft. Fest steht: Wer sich selbst mit dem Ausspruch »Ich arbeite, also bin ich!« definiert, der wird stärker zum Arbeiten trotz Krankheit neigen als sein Pendant, der »Ich arbeite um zu leben«-Typ. Doch häufig ist es nicht die innere Einstellung, die Menschen trotz teils erheblicher Beschwerden in die Arbeit gehen lässt. Im Zeitraum der letzten großen Wirtschaftskrise ab 2008 fielen die Krankentage in deutschen Betrieben rasant in den Keller. Wer Angst hat, seinen Job zu verlieren, der rackert auch gerne trotz Krankheit. Selbst das Geschlecht scheint einen Einfluss auf unseren Arbeitsdrang statt Krankheit zu haben. Fehlende Arbeitskraft oder Konzentration der Mitarbeiter sorgt für messbare Produktionseinbußen. Vorwegnehmend lässt sich sagen: Arbeit trotz Krankheit ist ein gefährliches, bislang chronisch unterschätztes Phänomen der Arbeitsmedizin. Dabei beschreibt der arbeitspsychologische Begriff des Präsentismus eben jenes Verhalten von Arbeitnehmern, insbesondere trotz Krankheit am Arbeitsplatz zu erscheinen – Absentismus meint das gegenteilige Verhalten, also das krankheitsbedingte Fehlen vom Arbeitsplatz.
Nun befindet sich die praktische Arbeitsmedizin in einem stetigen Kompromiss. Das Befinden und die Gesundheit der Arbeitnehmer müssen mit den betrieblichen Anforderungen in Einklang gebracht werden. Unternehmer erwarten berechtigterweise Leistung, jedoch sind Menschen keine fehlerlosen Maschinen und das Risiko vieler Krankheiten müssen gezielt minimiert werden. In diesem Spannungsfeld wird die Arbeitsmedizin aktiv. Doch wie definieren wir eigentlich den Erfolg arbeitsmedizinischer Bemühungen? Sind weniger Krankenscheine das Prädikatszeugnis für den erfolgreichen Betriebsarzt?
Präsentismus ist ein völlig unterschätzter Kostenfaktor und die Arbeitsmedizin muss sich mit diesem Umstand befassen. Häufig wird bei der Gegenüberstellung von Absentismus und Präsentismus zur Veranschaulichung ein Eisberg gewählt. Dieses Bild erscheint mir sehr passend. Denn es ist ohne Zweifel bereits heute Tatsache, dass der Kostenfaktor durch krankheitsbedingte Fehlzeiten an die Kosten durch Absentismus (also durch das Fernbleiben aufgrund von Krankheit) herankommt oder diese vielleicht sogar in einem noch unklaren Maß überschreitet. Präsentismus ist der massive Teil eines Eisbergs, den man über dem Meeresspiegel nicht sehen kann und der dennoch existent ist.
Im Allgemeinen lassen sich Krankheitskosten in direkte, indirekte und intagible Kosten einteilen. Direkte Kosten verursacht ein Kranker durch die Kosten für die ärztliche Versorgung oder für die Arzneimittel. Intagible (oder immaterielle) Kosten lassen sich erst einmal nicht erfassen. Kummer und Leid sind keine monetären Größen und ist ein Dritter für diese Kosten verantwortlich, so handelt es sich nicht mehr um eine wirtschaftliche, sondern vielmehr eine juristische Frage. Die indirekten Kosten sind hingegen wieder monetär messbar. Unter diesen Posten fallen alle Kosten, die (einem Arbeitgeber und der Volkswirtschaft) entstehen, wenn ein Arbeitnehmer krankheitsbedingt seine Arbeitsleistung nicht oder nur in einem reduzierten Maß anbieten kann. Hierum dreht sich unsere Beschäftigung mit dem Präsentismus. Doch häufig beschränkt sich die Berechnung indirekter Kosten auf die Kosten durch Absentismus.
Bisher ist kein Krankheitsbild auszumachen, bei dem die Untersuchung sowohl der durch Präsentismus entstehenden Kosten, als auch der konkreten Präventionsmaßnahmen so sehr fortgeschritten ist wie beim großen Feld der Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE). Doch sind MSE nur ein kleiner Teilbereich der kostenverursachenden Krankheitsbilder im Spektrum des Präsentismus. Die hier vorliegenden Ergebnisse spielen also in der Beschäftigung mit dem Gesamtphänomen nur eine kleine Rolle. Es deutet sich über zahlreiche Studien hinweg an, dass Migräne und Kopfschmerzen gemeinhin als Indikationen mit den deutlichsten Produktivitätsverlusten am Arbeitsplatz gelten. Anschließend kommen Atemwegserkrankungen, Depressionen und, gewissermaßen als stolze Ausformung unserer Leistungsgesellschaft, das heute durchgehend salonfähige Burnout-Syndrom. Eine schon etwas in die Jahre gekommene Untersuchung aus dem Jahr 2004 kommt zu dem Ergebnis, das der Anteil von Präsentismus an den gesamten indirekten Kosten je nach Indikation auf jeden Fall im zweistelligen Prozentbereich liegt – und möglicherweise sogar mehr als die Hälfte aller indirekten Kosten ausmacht. Eine jüngere, deutlich genauere und gleichzeitig erschreckendere Studie aus dem Jahr 2012 verfestigt die Befürchtung, dass wir hier von mehr als 50 {7403491ae045735685bdd5af37923554b6d21df64a5792d4e1beeefebe92ab11} Anteil an den indirekten Kosten sprechen. So wie beim Blick auf den Eisberg anzunehmen ist, dass sich da noch eine große Masse unterm Meeresspiegel versteckt, lässt sich anhand dieser beiden Studien also die berechtigte Annahme bilden, dass kranke Arbeitnehmer durch ihre Anwesenheit im Unternehmen grundsätzlich höhere Kosten verursachen als bei ihrer Abwesenheit. Eine Analyse aus dem Jahr 2009 0legt nahe, dass die durch Präsentismus verursachten Kosten in Deutschland doppelt so hoch sind (2399 Euro) als die durch Absentismus verursachten Kosten (1199 Euro). Wieso also hält die Arbeitsmedizin noch immer am Verständnis fest, dass ihre Bemühungen erfolgreich waren, wenn Krankmeldungen und Krankheitstage zurückgefahren werden? Die Antwort ist einfach und ernüchternd zugleich. Die alten Erfolgskriterien sind eine Komfortzone für die, natürlich selbst wirtschaftlich agierenden Arbeitsmediziner. Es ist ein dienliches Verkaufsargument für die eigene Dienstleistung – ein praktisches aber denkbar überkommenes Kriterium.
Mitarbeiter, die krank zur Arbeit erscheinen, gefährden gemeinhin nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern auch die der Kollegen. In der oben getätigten Aufzählung waren virale und bakterielle Infekte noch nicht genannt, doch dienen sie als Paradebeispiele, wie sich kranke Arbeitnehmer durch deren Erscheinen im Betrieb wie durch Geisterhand vervielfachen. Der implizierte Sarkasmus muss sein, denn bis sie auf diesen Umstand angesprochen werden, schwelgen Arbeitgeber häufig im Glauben, das ein in seiner Leistungsfähigkeit um die Hälfte reduzierter Arbeitnehmer weniger Schaden anrichtet als ein Kranker. Doch neben der Möglichkeit, dass sich virale und bakterielle Krankheiten im Betrieb verbreiten können, verlangsamt oder hemmt das Arbeiten trotz Krankheit den natürlichen und/ oder medizinisch unterstützten Genesungsprozess. Als dritter Risikobereich sind krankheitsbedingte Arbeitsfehler zu bedenken, die dem Unternehmen einen wirtschaftlichen Schaden verursachen können (und die bei voller Konzentration und Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers nicht geschehen wären).
Es ist also Zeit, die Erfolgskriterien der praktischen Arbeitsmedizin neu zu definieren und gleichsam den Unternehmen neu zu vermitteln. Zwar bräuchten wir viel mehr Erhebungen zum Präsentismus, als sie uns bislang vorliegen. Doch müssen hierfür erst einmal die Bereitschaft und das grundlegende Interesse geweckt werden, Erfolg in der Arbeitsmedizin nicht an der Zahl der Krankenscheine zu messen. Gehen wir diesen Weg der Neudefinition des Erfolgs von Arbeitsmedizin aber auch bitte nicht durch die reine Produktivitätsrate eines Betriebs oder einer Abteilung. Wer in Stückzahlen, Verkaufszahlen oder ähnlichen Größen misst, der läuft Gefahr, die nächste kurzfristige Größe in die Formel der Arbeitsmedizin einzuführen: Zu Lasten der Arbeitnehmer und ganzheitlich betrachtet auch zu Lasten der Unternehmen. Weitere Untersuchungen zum Phänomen des Präsentismus werden es hoffentlich schaffen, zu einem entsprechenden Umdenken anzuregen.